Sonntag, 17. März 2024

Rezension: Gruß aus der Küche von Ingrid Noll

 


Rezension von Ingrid Eßer


Titel: Gruß aus der Küche
Autorin: Ingrid Noll
Erscheinungsdatum: 21.02.2024
Verlag: Diogenes (Link zur Buchseite des Verlags=
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783257804553

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Ein „Gruß aus der Küche“ ist in der französischen Kochkunst gebräuchlich und gibt dem gleichlautenden Roman von Ingrid Noll den Titel, allerdings ist die 40-jährige Köchin Irma als eine der Protagonist(innen) tief in ihrer deutschen Heimat verwurzelt. Auf mich als Leserin wirkte sie nicht so brav wie die Porträtierte auf dem Cover des Buchs. In ihrem Restaurant „Aubergine“, in dem sie ausschließlich vegetarische und vegane Gerichte anbietet, ist sie tagsüber in einem Outfit anzutreffen, das dem Namen ihres Gasthauses alle Ehre macht. Obwohl sie eine soziale Ader hat, versteht sie es, ihre Ansichten und Forderungen durchzusetzen.

Neben Irma nimmt die Autorin auch Josch, Lucy und Vinzent in den Fokus der Kapitel. Alle erzählen aus der Ich-Perspektive. Josch ist Kellner. Von Größe und Umfang her könnten er und Irma kaum verschiedener sein, doch sie mögen einander. Irma ist von seinen administrativen Kenntnissen abhängig, aber auch eifersüchtig, wenn er anderen Frauen mehr als schöne Augen macht. Die schusselige und gefühlsgesteuerte 17-jährige Lucy hat die Schule abgebrochen und probiert sich im Restaurant in einem Beruf aus, während der über 80 Jahre alte Vinzent, seines Zeichens Doktor der Altertumskunde, einen Zeitvertreib in der Küche beim Gemüseschneiden sucht. Außerdem nimmt Hilfsköchin Nicole, Irmas gute Freundin seit Kindertagen, eine größere Rolle in der Geschichte ein. Im Sprachstil zeigt die Autorin sich diesmal gestaltungsreich und firm mit eingestreutem Denglisch, Anglizismen und antiquierten Begriffen von Vinzent.

Ingrid Noll ist bekannt für ihre Romane, in denen sie mit Witz und Verve einen raffiniert ausgeführten Mordfall beschreibt. Beim Lesen dachte ich einige Male, dass nun bald jemand das Zeitliche segnen wird. Ob und wann es dazu kommt, verrate ich nicht, aber wie gewohnt ist die Geschichte in einem lakonisch sarkastischen Stil geschrieben. Die Protagonist(innen) lieben und schlagen sich im übertragenen Sinn. Aus Ärger wird Rachsucht und auf einen ersten Streich folgt ein weiterer. Es gibt in der Regel immer eine Person mit Verständnis für das Opfer des Pranks, so dass sich Bündnisse ergeben, die sich wieder auflösen und neuformieren. Nicht immer hat der Spaß die gewünschte Wirkung. Daraus resultieren einige unerwartete Wendungen und zum Ende hin gibt es noch eine Überraschung, die ich so nicht erwartet hätte. Eine hintergründige Spannung ist durchgehend vorhanden, bietet aber keinen Höhepunkt.

„Gruß aus der Küche“ von Ingrid Noll ist ein schalkhafter Roman mit Biss, der zeigt, wie vielseitig ein Amuse Bouche sein kann. Locker-flockig vereint die Autorin in der Geschichte die Lebenswelt von Jung und Alt, deren gemeinsames Anliegen es ist, die Gäste der Gaststätte mit vegetarischen Gerichten zufrieden zu stellen. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.


Samstag, 16. März 2024

Buddyread zum Roman "Hallo du Schöne" von Ann Napolitano - 3. Leseabschnitt

 


Buddy-Read von Ingrid (buchsichten) mit Patricia (Patno) (https://nichtohnebuch.blogspot.com)

Hanna und ich kennen Tanja und Patricia (kurz: Patno) vom Blog "Nicht ohne Buch" schon seit vielen Jahren und treffen bei buchigen Events immer wieder auf die beiden. Darum habe ich mich besonders gefreut, dass Patno sich gemeldet hat, als ich ein(e) Partner(in) zu einem Buddyread für das Buch "Hallo du Schöne" gesucht habe. Wir haben den Roman in drei Leseabschnitte eingeteilt.


3. Leseabschnitt: ab Seite 339 bis zum Schluss (506 gesamt)

Liebe Patno,

 

nachdem die Geschichte einige Zeit im Jahr 1984 verharrte, weil die Ereignisse den Schwestern und William in wesentlichem Maße zusetzten, eilen die Jahre zu Beginn des dritten Leseabschnitts nur so dahin. Der erste Satz des neuen Abschnitts traf mich als Leserin sofort ins Herz. Darin sagt Julia ihrer fünfjährigen Tochter, dass ihr Vater verstorben ist. In diesem Moment wurde mir Julia unsympathisch, was sich in der Folgezeit weiter verstärkte. Wie ist es dir dabei gegangen, als du gelesen hast, dass Julia für sich und ihre Tochter weiteren Kontakt zur Familie ablehnt? 

Liebe Ingrid,  

um ehrlich zu sein, mit Julia habe ich von Anfang an gehadert. Sie ist wie ein Schweizer Uhrwerk. Sie geht unbeirrt ihren Weg ohne Rücksicht auf Verluste. Julia hat beschlossen, den Kontakt zu ihrer Familie abzulehnen und dann gilt das eben auch für ihre Tochter. Ihre Härte und Unnachgiebigkeit kennen keine Grenzen. Auch wenn das bedeutet, den Vater ihrer Tochter für tot zu erklären. Aber da Alice ihrem Vater sehr ähnlich sieht, wird Julia jeden Tag an seine Existenz erinnert. Alice ist mir ans Harz gewachsen. Sie ist eine interessante Mischung aus Williams und Julias Charakter. Ihre Darstellung fand ich besonders gelungen. Wie ist es Dir mit Alice gegangen. Mochtest Du sie? 

 Ja, ich mochte sie und konnte ihre introvertierte Art gut nachvollziehen. Mit ihr kommt eine neue Sicht auf die Geschehnisse ins Spiel. Da sie wenig Emotionen nach außen zeigt und gern für sich bleibt, konnte ich auf diese Weise mehr über ihre Gefühle erfahren. Hätte die Autorin sie nicht in den Fokus gestellt, denke ich, wäre sie eine Randfigur geblieben. Ich finde die Perspektiven, auch von William, Julia und Sylvie, von Ann Napolitano geschickt gewählt, denn die großen Schicksale des Romans treffen vor allem diese vier und durch ihren Blick auf die Ereignisse war ich tief berührt. Hättest du dir noch die Sichtweise einer anderen Person gewünscht?

Ich fand es klasse, dass die Autorin Alice eine zentrale Rolle gegeben hat, denn die vier Schicksale sind nun einmal besonders eng miteinander verbunden. Mir persönlich haben die Informationen über die Randfiguren ausgereicht. Nein, ich hätte mir keine weitere Sichtweite gewünscht. Wie hast Du die tragische Wendung in der Geschichte empfunden? Damit hatte ich nicht gerechnet, aber es hat gut gepasst. Die Entwicklung von William fand ich auch gut dargestellt. Fandest Du William sympathisch? 

Die Wende hatte ich so nicht kommen sehen. Allerdings hatte ich mir schon gedacht, dass Julia und William keine ideale Ehe führen werden, dazu lag der von Julia gesetzte Maßstab zu hoch. William hat das Trauma seiner Kindheit nie überwunden, insofern habe ich sein Verhalten zwar nicht gutgeheißen, aber ihn dafür auch nicht verurteilt.

Ann Napolitano hat in ihrem Roman die verschiedensten Familienkonstruktionen eingebracht und auch die unterschiedlichen Erziehungsstile von Rose, Julia und Cecelia. Ich hätte nicht gedacht, dass Julia sich so verkrampft zeigt. Offensichtlich hat sie in New York für sich selbst Vergnügen gefunden. Patno, denkst du, dass sie sich dennoch einsam fühlte und darum ihre Tochter dauerhaft an sich binden wollte? Cecelias Art mit Izzy umzugehen, fand ich dagegen cool. Ungewöhnlich fand ich Emelines Wunsch nach Pflegekindern. Ich hätte viel zu sehr mein Herz an die Kleinen gegeben und sie vermutlich nicht mehr hergeben wollen. 

Julias Verhalten habe ich tatsächlich geahnt. Es hat zu ihrer Charakterdarstellung gepasst. Ich denke schon, dass der Ausweg nach New York gut in ihren Plan gepasst hat. Nach außen hin gibt sie sich stark und vergnügt, aber innerlich haben ihr die Schwestern bestimmt sehr gefehlt. Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie einsam war. Mit Sicherheit hat ihr Silvie jeden Tag gefehlt. Da ist es nur logisch, sich an Alice als Rettungsanker zu klammern. Schon nach dem ersten Leseabschnitt war Cecelia mein Lieblingscharakter und das hat sich durch das Buch durchgezogen. Die Nummer mit Emelie und den Pflegekindern fand ich merkwürdig. Besser hätte ich es gefunden, wenn sie ein Kind zur Pflege genommen oder adoptiert hätten.  

Ann Napolitano erklärt in ihrer Danksagung mehr oder weniger, wie die Geschichte entstanden ist. Dennoch frage ich mich, welche ähnlichen Dramen sie selbst in ihrer Familie erlebt hat, um die Gefühle der Personen so nachvollziehbar wiedergeben zu können. Zum Schluss hätte ich gerne noch mehr über die nächsten Schritte von William und Alice erfahren, aber vielleicht gibt es irgendwann eine Fortsetzung. Für mich ist der Roman trotz ein paar kleiner Längen eine Leseempfehlung wert. 

Hat nicht jeder von uns sein Pölsterchen zu tragen? Ich denke, Ann Napolitano hat sich in ihre Figuren sehr intensiv hineinversetzt und sicher spielt da auch die eine oder andere persönliche Erfahrung eine Rolle. 
Für mich klingt der Roman in sich abgeschlossen. Ich glaube, es hat mir ausgereicht zu sehen, dass sich Vater und Tochter Stück für Stück annähern. Eine Fortsetzung kann ich mir nicht so richtig vorstellen. 
Was die Leseempfehlung betrifft, bin ich ganz Deiner Meinung. Ein toller Roman, der Denkanstöße bietet und den anspruchsvollen Leser sucht. 

Liebe Ingrid, nun sind wir am Ende unseres Buddyreads angekommen. Es hat Spaß gemacht, mich mit Dir gemeinsam zu lesen. Sollten wir bei Gelegenheit wiederholen.  

Liebe Patno, vielen Dank, dass du meine Lesepartnerin warst und mir mein erstes Buddyread ermöglicht hast. Es war eine interessante Erfahrung. Vielleicht finden wir uns wieder einmal zum Lesen und Austauschen zusammen.

 


Freitag, 15. März 2024

Rezension: Ein falsches Wort von Vigdis Hjorth


Ein falsches Wort
Autorin: Vigdis Hjorth
Übersetzerin: Gabriele Haefs
Hardcover: 400 Seiten
Erschienen am 13. März 2024

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Bergjlot hat zwei jüngere Schwestern und einen älteren Bruder. Ihre eigenen Kinder sind schon erwachsen, da bricht unter ihren Geschwistern ein Streit ums Erbe der Eltern aus. Einst wurde ihnen versprochen, dass sie alle gleich viel erben sollen. Doch nun haben die Eltern den jüngeren Schwestern Astrid und Åsa je eine der beiden Hütten in Hvaler überschrieben und dabei einen sehr niedrigen Wert angesetzt. Ihr Bruder Bård fühlt sich ungerecht behandelt und möchte Bergjlot auf seiner Seite wissen. Die ist erstaunt, dass sie überhaupt noch etwas erben soll, hat sie doch Jahre zuvor den Kontakt zur Familie gänzlich abgebrochen. Auf Bårds Drängen hin äußert sie sich schließlich doch dazu. Aber je mehr sie sich dadurch wieder mit ihrer Familie beschäftigen muss, desto stärker dringen alte, schmerzhafte Erinnerungen an die Oberfläche.

Auf der ersten Seite der Geschichte informierte die Ich-Erzählerin Bergjlot mich, dass ihr Vater seit fünf Monaten tot ist. Danach beginnt sie ihren Bericht, was sich in den Wochen davor und danach zugetragen hat. Zunächst dreht sich alles um den Streit ums Erbe: Die beiden jüngeren Schwestern möchten Auseinandersetzungen verhindern, finden die Überschreibung der Hütten an sie aber auch fair, da sie seit Jahren viel mehr Zeit mit den Eltern verbringen haben als Bård und Bergjlot. Aus Sicht der beiden älteren Geschwister gab es gute Gründe für ihr Fernbleiben, doch diese werden zunächst nicht ausgeführt.

Der ganze Roman ist aus der Perspektive der Ich-Erzählerin Bergljot geschrieben. Selbst die Briefe und Mails, die sie mit ihren Geschwistern austauscht, fasst sie mit eigenen Worten zusammen. Dadurch entsteht ein einseitiger Blick auf die Ereignisse. Es wird immer deutlicher, dass Bergjlot das Erbe tatsächlich relativ egal ist und ich fragte mich, warum sie den Kontakt zur Familie abgebrochen hat. Ihre Gedanken kreisen, aber immer, wenn sie sich den Gründen nähert drehen sie ab. Sie erwähnt, dass sie viele Jahre Therapie in Anspruch genommen hat wegen Dingen, die ihr als Kind widerfahren sind. In der zweiten Buchhälfte gelingt es ihr schließlich besser, das Unaussprechliche zumindest grob in Worte zu fassen.

Wie reagiert eine Familie auf schwerwiegende Anschuldigungen aus ihrer Mitte, an denen sie eigentlich zerbrechen müsste? In diesem Fall entscheidet sie sich für Verleugnung zugunsten von Harmonie. Bergjlot ist eine unzuverlässige Erzählerin, doch mit der Zeit konnte ich immer besser nachvollziehen, wie sehr sie unter den Reaktionen ihrer Familie leidet. Ihre ganze Wut, Enttäuschung und Trauer bricht hervor, die alten Wunden werden durch den Erbstreit aufgerissen, während ihre Familie auf Versöhnung drängt. Doch den dafür aufgestellten Regeln, die besagen, dass sie dafür von ihrer Wahrheit abrücken muss, kann sich Bergjlot nicht fügen. 

Die Rückblicke in die Vergangenheit, wie es der Erzählerin als junge Erwachsene ergangen ist, brachten für mich nur wenig Erkenntnisgewinn und ich erlebte während der Lektüre durch sich wiederholende Kommunikationsmuster einige Längen. Aus meiner Sicht ist es aber letztendlich die mangelnde Figurenentwicklung, die den Roman ausmacht und zu der schmerzaften Erkenntnis führt, dass manche Wunden nicht heilen können, wenn niemand seine Sicht auf die Dinge überdenken möchte. Eine eindrückliche Lektüre, die nachhallt.

Donnerstag, 14. März 2024

Buddyread zum Roman "Hallo du Schöne" von Ann Napolitano - 2. Leseabschnitt

 


Buddy-Read von Ingrid (buchsichten) mit Patricia (Patno) (https://nichtohnebuch.blogspot.com)

Hanna und ich kennen Tanja und Patricia (kurz: Patno) vom Blog "Nicht ohne Buch" schon seit vielen Jahren und treffen bei buchigen Events immer wieder auf die beiden. Darum habe ich mich besonders gefreut, dass Patno sich gemeldet hat, als ich ein(e) Partner(in) zu einem Buddyread für das Buch "Hallo du Schöne" gesucht habe. Wir haben den Roman in drei Leseabschnitte eingeteilt.


2. Leseabschnitt: von Seite 167 bis 338 (506 gesamt)

Liebe Patno,

 

das Verhalten von William im zweiten Leseabschnitt fand ich verstörend, konnte die von ihm gezogenen Konsequenzen aber auch nachvollziehen, obwohl ich sie nicht gutheiße. In seinem Leben hat er zunächst wenig Liebe erfahren und sich mehrfach als Versager erlebt. Glücklicherweise hat er dennoch Freunde, die ohne Wenn und Aber an seiner Seite stehen. 

 

Liebe Ingrid, 

 

mir ging es ähnlich. Von Anfang an wirkte William auf mich emotionslos, was allerdings bei diesen Eltern durchaus nachvollziehbar ist. Erst war mir unbegreiflich, dass er so einen radikalen Bruch mit Frau und Kind vollzieht. Später wird klar, dass William Angst hatte, den Menschen weh zu tun. Ich finde es klasse, wie sich sein Freund Kent und das Basketball-Team um ihn kümmern. 

 

Endlich erfuhr ich auch, ob sich das bewegende Gefühl, dass sich zwischen William und Sylvie zeigte und von beiden zunächst als unerwünscht zur Seite geschoben wurde, weiter entwickeln konnte. Sylvie weiß, wenn sie ihrem Empfinden folgt, wird sie Julia weh tun. Wie hättest du dich an Sylvies Stelle entschieden? Ich finde es schwierig, aus der heutigen Sicht zu entscheiden, welchen Weg man in den 1980ern genommen hätte. Mit dem jetzigen Wissen hätte ich wie Sylvie entschieden.

 

Ich glaube, ich hätte tatsächlich wie Sylvie entschieden. Die beiden Schwestern waren sich zwar immer sehr nah, aber Julia hatte William bereits abgeschrieben. Sie ist so klar und strukturiert, wirkt aber auf mich sehr kühl und distanziert. Sie muss alles im Griff haben und durchplanen. Mit Sylvie konnte ich eher sympathisieren. Sie ist nicht so aalglatt und eben nicht perfekt. Auch sie wird von düsteren Gedanken heimgesucht und ich glaube, sie versteht Williams Handlungen und kann besser damit umgehen. 

 

Über mehr als einhundert Seiten hinweg behandelt die Geschichte einen Zeitraum von nur etwa fünf Monaten, der aus drei Perspektiven geschildert wird. Zwangsläufig kommt es dazu, dass gewisse Situationen dann aus den verschiedenen Sichten geschildert werden. Was denkst du: hätte es gereicht, wenn nur ein(e) Protagonist(in) die wichtigsten Ereignisse erzählt hätte?

 

Ich denke auch, dass dieser Teil der Geschichte den Lesefluss etwas verlangsamt. Hier hätte ich es mir etwas komprimierter gewünscht. Durch diese verschiedenen Sichtweisen wiederholen sich ein paar Dinge. Mir persönlich hätte auch eine Protagonist(in) gereicht, um die wichtigsten Details zu erfahren. Es ist dieser typische amerikanische Schreibstil, detailverliebt und ausschweifend. Trotzdem bewegt mich das Gelesene und ich bin gespannt, wie es im dritten Teil weitergeht. 

Wie empfindest Du das Verhalten der Zwillinge? Sie stehen schon zwischen den Fronten, aber ich finde es toll, wie sie sich verhalten. 

 

Die Zwillinge sind als Figuren sehr unterschiedlich. Gut ist es, wenn in einer Familie Konflikte vorliegen und dann mindestens ein oder eine andere(r) sich nicht einfach nur zurückzieht und sagt: „Sollen die doch ihre Differenzen untereinander ausmachen“, sondern sich Gedanken macht und zu einer Lösung beiträgt. So, wie die Zwillinge es halten, denke ich, ist es das richtige Maß zwischen Abstand und Einmischen, aber hin und wieder kann vermutlich nur die Zeit zu einer Entspannung der Gesamtsituation beitragen. Leider sind die Fronten manchmal arg verhärtet und ich frage mich, wie sich das Verhältnis der Schwestern im Roman zueinander weiterentwickeln wird.


Rezension: Der ehrliche Finder von Lize Spit

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Der ehrliche Finder
Autorin: Lize Spit
Übersetzerin aus dem Niederländischen: Helga von Beuningen
Erscheinungsdatum: 13.03.2024
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783103975642
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Die Novelle „Der ehrliche Finder“ der Belgierin Lize Spit ist eine Geschichte über die Freundschaft zweier Jungen, die sich in viele Eigenschaften unterscheiden. Die Erzählung spielt Ende des letzten Jahrhunderts in dem fiktiven belgischen Ort Bovenmeer.  

Einer der beiden Protagonisten ist Jimmy. Er ist etwa neun Jahre alt und besucht die dritte Schulklasse. Als einziges Kind seiner Eltern lebt er nach dem Auszug seines Vaters im Einfamilienhaus allein mit seiner Mutter. Jimmy sammelt mit Begeisterung die sogenannten Flippos, die seit Mitte der 1990er einige Zeit bestimmten Chipstüten in Belgien beilagen und von denen es damals weit über 500 mit verschiedenen Cartoons gegeben hat. Er ist ein sehr guter Schüler und wahrheitsliebend. Eines Tages sieht er Geld in einem Bankautomaten stecken, nimmt es an sich, gibt es aber bald darauf der Besitzerin wieder zurück, die inzwischen nach ihrer Abhebung sucht. Der Titel nimmt hierauf Bezug.

Die zweite Hauptfigur ist der elfjährige Tristan, der eines Tages zum Mitschüler von Jimmy wird. Er ist mit seinen Eltern und sieben Geschwistern aus dem Kosovo geflohen. Obwohl er zunächst kaum ein Wort Deutsch spricht, werden die beiden schnell Freunde. Die Familie von Tristan wartet darauf, das Bleiberecht in Belgien zu erhalten. Um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass die Genehmigung erteilt wird, denkt Tristan sich etwas aus und bittet Jimmy um Mithilfe. Doch für die Freunde wird die Umsetzung des Plans zum Drama.

Das Gefühl der Einsamkeit kennt Jimmy sehr gut. In Tristans Familie lernt er den Zusammenhalt und das Füreinanderdasein kennen und schätzen. Entsprechend der Erzählungen des Freund stellt Jimmy sich vor, welchen Strapazen Tristan auf der Flucht ausgesetzt war. Mit seiner Hilfsbereitschaft versucht er ihm das jetzige Leben zu erleichtern. Außerdem hofft er darauf, dass der Freund seine Sammelleidenschaft teilt und sie dadurch einem gemeinsamen Hobby nachgehen können.

Die Autorin lehnt ihre Geschichte an dem wahren Schicksal einer geflüchteten Familie aus dem Kosovo an. Ihre Schilderungen sind ergreifend, aber ich hätte gerne noch einiges mehr über das Leben der beiden Familien erfahren aus der Zeit, bevor die Jungen sich miteinander befreundet haben. Das Thema der Asylsuchenden ist und bleibt aktuell und mit Konflikten belastet.

Lize Spit verdeutlicht in ihrem Buch „Der ehrliche Finder“, dass die Freundschaft von Kindern auf anderen Faktoren beruht als auf gesellschaftlichem Stand, Alter und Geschlecht. Zwar bleibt die Novelle weit hinter ihren ausführenden Möglichkeiten zum Thema Asyl zurück, ist aber lesenswert und bewegend. 


Mittwoch, 13. März 2024

Rezension: Der ehrliche Finder von Lize Spit


Der ehrliche Finder
Autorin: Lize Spit
Übersetzerin: Helga van Beuningen
Hardcover: 128 Seiten
Erschienen am 13. März 2024

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Jimmy ist ein begeisterter Sammler. Sein Taschengeld nutzt er, um Chipstüten zu kaufen, denn in jeder befindet sich ein Flippo. Jeden Tag fährt er auf dem Rad durch die Stadt auf der Suche nach Münzen. Die fünftausend Franc, die er bei seiner Runde im Geldautomat findet, muss er jedoch wieder zurückgeben, sodass sein Traum von einer vollständigen Sammlung schnell wieder in die Ferne rückt.

Seine doppelten Flippos hebt Jimmy für Tristan auf, um ihn damit irgendwann zu überraschen. Dieser ist sein bester Freund, seit er vor etwas mehr als einem Jahr in der Schule neben ihn gesetzt wurde. Gemeinsam mit seiner Familie ist er aus dem Kosovo bis nach Belgien geflüchtet. Jimmy ist begeistert, als er von Tristan eingeladen wird, bei ihm zu übernachten. In den gemeinem Plan, den Tristan mit seiner Schwester Jetmira ausgeheckt wird, soll er jedoch erst am nächsten Tag eingeweiht werden.

Das neue Werk von Lize Spit ist eine Novelle, die in Belgien als kostenlose Geschichte in der Buchwoche erschienen ist. Zu Beginn lernte ich Jimmy kennen, der stolz darauf ist, Tristan seinen besten Freund nennen zu dürfen. Seit dessen Ankunft in seinem Ort lernt Jimmy fleißig mit ihm die Sprache. Allerdings wird er schnell eifersüchtig, wenn Tristan Zeit mit anderen verbringt. Umso mehr freut er sich über die Einladung zur Übernachtung bei Tristan und seiner großen Familie.

Ich konnte gut nachvollziehen, wie faszinierend die Großfamilie Ibrahimi auf Jimmy wirken muss, der allein bei seiner Mutter wohnt, seit der Vater die Familie verlassen hat. Doch das muntere Treiben ist alles andere als sorgenfrei. In diversen Szenen zeigt sich, dass Tristan und seine Familie schwere Traumata erlitten haben, als sie zu Fuß bis nach Belgien geflüchtet sind. Und nun droht die Abschiebung. 

Die Geschichte setzt sich schließlich auf bedrückende Weise mit der Frage auseinander, wie weit ein Kind zu gehen bereit ist, um im Land und damit in Sicherheit bleiben zu dürfen. Das Ende ist jedoch abrupt und insgesamt hätte ich mir einen stimmigeren Handlungsbogen gewünscht. Die fünftausend-Franc Szene zu Beginn und auch Jimmys Flippo-Sammlerei haben am Ende wenig mit dem zentralen Thema der Novelle zu tun. Dieses hätte man noch intensiver ausschöpfen können, damit die knapp über 120 Seiten bei diesem schweren und wichtigen Thema noch eindringlicher nachwirken.

Rezension: Da waren Tage von Luna Ali

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Da waren Tage
Autorin: Luna Ali
Erscheinungsdatum: 13.03.2024
Verlag: S. Fischer (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783103975505

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Die Autorin Luna Ali schaut in ihrem Roman „Da waren Tage“ auf die politischen Entwicklungen ihres Geburtslands Syrien seit 2011. Ihr Protagonist Aras ist als Kind mit seiner Mutter und seiner Schwester Lamia aus Aleppo geflohen. Sein Vater ist aus politischen Gründen verschwunden. Nach dem Abitur beginnt Aras ein Jurastudium. Aber er beabsichtigt nicht, für Gerechtigkeit zu sorgen, sondern er möchte Gesetze bestmöglich in seinem und dem Sinne seiner Familie auslegen.

Am 15. März 2011, dem Beginn der Proteste gegen Syriens Machthaber, befindet sich Aras im ersten Semester. Ab diesem Zeitpunkt begleitet die Autorin ihren Protagonisten Jahr für Jahr an diesem Tag. Die Aufstände verfolgt er im Fernsehen, doch er fühlt sich ihnen nicht nahe. Seit über zehn Jahren wird er in Deutschland vom Äußeren her als fremd wahrgenommen, doch er hat die Sprache schnell gelernt, ist politisch aktiv und betätigt sich sportlich. In den Folgejahren begegnete ich als Leserin Aras beispielsweise wegen einer Verpflichtungserklärung bei der Ausländerbehörde, als Syro-Deutscher in einer Fernseh-Talkshow mit prominenten Gästen, als Praktikant bei der Botschaft Jordaniens und als Crewmitglied eines Rettungsschiffs.

Aras ist vom Leid Verwandter und Bekannter in Syrien betroffen, obwohl er fern der Aufstände ist. Luna Ali schildert seinen Alltag, der austauschbar ist und doch geprägt wird von dem Wissen um all jene, die Gewalt erleben und denen er sich menschlich nahe fühlt. Seine Feinfühligkeit geht soweit, dass er sich in seinen Träumen in bedrohlichen Situationen wiederfindet und diese Eingang in seine Realität halten. Durch Engagement versucht er mit seinen Mitteln den vom Konflikt in Syrien Betroffenen Hilfe zu bieten, wo immer er kann.

In den ersten Kapiteln wirkt die Sprache, die die Autorin nutzt, teilweise verdreht. Später las ich von der Bedeutung des Tauschs von Subjekt und Objekt im Satz, denn durch den Wechsel der Satzglieder wird es Aras möglich, anders zu denken und Ereignisse zu erfassen, die andernorts stattfinden. Auch auf andere Weise spielt Luna Ali mit Sprache und deren Darstellung. Zum Beispiel ist eines der Kapitel im Querformat gedruckt und handelt von einer verzweifelten Suche des Protagonisten nach einer geliebten Person. Dabei stehen Erzählung, Gedanken, belanglose Feststellungen und Listen gleichwertig versetzt nebeneinander und spiegeln den inneren Aufruhr von Aras wieder. Ein anderes Kapitel besteht aus der Rede des Protagonisten vor den Mitgliedern des Flüchtlingsrats. In einem letzten Kapitel springt die Autorin in eine unbekannte Zukunft, der sie sich philosophisch nähert.

In ihrem Debütroman „Da waren Tage“ beeindruckt Luna Ali mit einer vielschichtigen Ausgestaltung der Sprache, die sich mit der wechselnden Gefühlswelt des Protagonisten Aras ändert, der in Deutschland das Revolutionsgeschehen in seinem Geburtsland Syrien in den Medien verfolgt. Das Geschehen sieht er mit seinem juristischen Wissen nicht nur kritisch im Rahmen von Gesetzen, sondern lässt zunehmend die Schicksale der unter dem Konflikt Leidender an sich heran. Gerne empfehle ich das Buch weiter.


Dienstag, 12. März 2024

Buddyread zum Roman "Hallo du Schöne" von Ann Napolitano - 1. Leseabschnitt

 




Buddy-Read von Ingrid (buchsichten) mit Patricia (Patno) (https://nichtohnebuch.blogspot.com)

Hanna und ich kennen Tanja und Patricia (kurz: Patno) vom Blog "Nicht ohne Buch" schon seit vielen Jahren und treffen bei buchigen Events immer wieder auf die beiden. Darum habe ich mich besonders gefreut, dass Patno sich gemeldet hat, als ich ein(e) Partner(in) zu einem Buddyread für das Buch "Hallo du Schöne" gesucht habe. Wir haben den Roman in drei Leseabschnitte eingeteilt.


1. Leseabschnitt: bis Seite 166 von 506

Liebe Patno,

ich freue mich sehr, dass wir uns zu einem Buddy-Read zusammengefunden haben. Der Roman „Hallo du Schöne“ von Ann Napolitano ist für mich ein echter Hingucker. In einer Buchhandlung würde er mir bestimmt auffallen und ich würde mir das Buch genauer anschauen. Wie gefällt dir das Cover?

 Liebe Ingrid,

die Freude über unseren Buddy-Read ist auch bei mir groß. Obwohl wir uns schon einige Jahre kennen, ist diese gemeinsame Leseaktion eine Premiere. Nun zu Deiner Frage. Das Buchcover ist der Hammer. Man kann es in keiner Buchhandlung übersehen. Man kann sich der Schönheit nicht entziehen und damit passt es perfekt zur Story. 

Den Titel finde ich einprägsam, dachte aber zunächst, dass er sich nur auf Julia, als älteste der vier Schwestern, in der Geschichte beziehen würde. Obwohl in der Inhaltsangabe nicht von einer besonders schönen Person gesprochen wird, habe ich beim Aufschlagen des Buchs mit einer Schönheit als Figur gerechnet. Hast du dir vor dem Lesen Gedanken zum Titel gemacht?

Um ehrlich zu sein, vermeide ich es, mir im Vorfeld Gedanken über den Buchtitel zu machen. Das weckt Erwartungen und ich gehe lieber neutral an eine Geschichte heran. Schon nach den ersten gelesenen Seiten packt mich das Geschehen. 

Ich finde es interessant, die Charaktere kennenzulernen. Zwischendurch habe ich das Gefühl, dass die Story etwas vor sich hin plätschert. Da hätte es für meinen Geschmack etwas mehr Pepp sein können. Aber zum Ende des ersten Leseabschnittes nimmt die Handlung an Fahrt auf. Wie bist Du gestartet?

Ich bin nicht so die Lyrikleserin und konnte zunächst mit dem vorgeschobenen Gedicht von Walt Whitman wenig angefangen. Den ersten Satz des Romans habe ich dann zweimal gelesen, um mir seine Bedeutung bewusst zu machen: William wird geboren und hat ein Geschwister, das er nie kennenlernen wird. Das ging ganz tief rein bei mir. Später stellt die Autorin deutlich heraus, wie verschieden die Schwestern im Denken und Handeln sind. Da stimme ich dir zu, dass die Geschichte dabei in der Entwicklung nicht vorankommt.

 Fragen kommen auf. Wer sind wir und was hat uns geprägt? Wie sehr kann ein Schicksalsschlag Menschen verändern? Als William von seiner Kindheit erzählt, bekomme ich eine Gänsehaut. Was sind das bitte für Eltern?! Einerseits bringe ich Verständnis für ihr Trauma auf, aber andererseits bin ich schockiert, dass ihr Sohn mit voller Härte diese Empathielosigkeit zu spüren bekommt. Als Mutter möchte ich William in den Arm nehmen und ihm das Gefühl geben, dass er wichtig ist, ihn motivieren und eine Richtung weisen. Die Freude ist groß, als er auf die taffe Julia trifft, die für ihn die Zügel in die Hand nimmt. Julias Familie wirkt auf den ersten Blick ganz anders. Mit ihren drei Schwestern hält sie zusammen wie Pech und Schwefel. Schaut man jedoch bei den Eltern hinter die Kulissen, offenbart sich ein anderes Drama. Oje! Jeder hat eben sein Päckchen zu tragen.

 Ja, jeder geht anders mit Trauer um. Aber mit einem solchen Verhalten der Eltern hätte ich auch nicht gerechnet. Anfang der 1960er Jahre hat sicher auch niemand danach gefragt, wie geht es den Hinterbliebenen und angeboten, ob man drüber reden möchte. Ob das geholfen hätte, kann ich aber auch nicht einschätzen, dafür bleiben sie zu weit im Hintergrund. Bei Julias Familie ist mir aufgefallen, wie sehr die Schwestern um eine gute Ausbildung kämpfen müssen. Im Vergleich dazu hatten wir es in Deutschland im gleichen Zeitraum mit staatlichen Hilfen leichter und konnten eher ein selbstbestimmtes Leben anstreben.

 Julia und William sind das Traumpaar, aber William kann nicht aus seiner Haut. Er hat es nie gelernt seine Wünsche und Sehnsüchte zum Ausdruck zu bringen. Bleibt abzuwarten, ob und wie die beiden die Kurve kriegen. Wie sieht Du das?

 Darauf bin ich auch gespannt. Vor allem deswegen, weil sich zwischen William und Sylvie ein Gefühl eingeschlichen hat, das beide vorher anscheinend nicht kannten. Ich weiß noch nicht, ob ich das als mehr Verständnis füreinander deuten soll und ob William daher in Bezug auf Julia Konsequenzen gezogen hat.

 Der erste Leseabschnitt endet mit einem Cliffhanger und jetzt bin ich sehr gespannt, wie sich die Geschichte weiterentwickelt. Hast Du schon einen Lieblingscharakter? Ich mag Cecelia besonders. Sie geht unbeirrt ihren Weg, auch wenn es holprig wird.

Emeline gefällt mir am besten. Sie ist bisher gegenüber den anderen Schwestern noch nicht in besonderer Weise aufgefallen, aber wenn sie gebraucht wird, ist sie für die anderen da. Mal schauen, ob sie im weiteren Verlauf noch eine größere Rolle spielen wird. 


Montag, 11. März 2024

Rezension: Schwestern in einem anderen Leben von Christiane Wünsche

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Schwestern in einem anderen Leben
Autorin: Christiane Wünsche
Erscheinungsdatum: 28.02.2024
rezensierte Buchausgabe: Klappenbroschur
ISBN: 9783810530936
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In ihrem Roman „Schwestern in einem anderen Leben“ schreibt Christiane Wünsche über die rebellische Reaktion der 16-jährigen Schülerin Rebecca im Jahr 1976 auf eine Weisung ihrer auf den Ruf bedachten Eltern hin. Ihr Handeln führt dazu, dass sich die Ausgestaltung ihres weiteren Lebenswegs maßgeblich verändert. Die Verbindung zu ihren beiden Schwestern wäre bei einer anderen Entwicklung vielleicht herzlich und zugeneigt gewesen, nun wird sie getragen von Kummer und Schuld.

Auf einer zweiten Handlungsebene in der Gegenwart las ich von der alleinstehenden Rosi, die mit verschiedenen betreuenden Tätigkeiten ihren Unterhalt bestreitet. Sie ist freundlich und hilfsbereit. Schon nach wenigen Seiten wird deutlich, dass sie die erwachsene Rebecca ist. Eines Abends wird sie von einem Fernsehbericht erschüttert, der lange verdrängte Erinnerungen an ihre Vergangenheit wachruft. Sie beginnt zu grübeln, ob der Bruch mit ihrer Familie noch zu heilen ist und wenn ja, ob es sinnvoll für die Beteiligten, Kontakt zu suchen .

Die Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit, von der die Autorin gehört hat. Wer schon einmal eine Vermisstensendung im Fernsehen gesehen hat, weiß, wie bewegend es ist zu sehen, wenn Angehöriger eine verschwundene und gesuchte Person wiederfinden. Ebenso berührend schreibt Christiane Wünsche über das Schicksal von Rebecca. Der Zufall verhilft ihr dazu, dass sie ihr Vorhaben umsetzen kann. In ihrer Verzweiflung hat sie den Heimatort hinter sich gelassen und kann in einer Wohngemeinschaft bleiben.

Auf ihrem weiteren Leben bewegt sie sich in verschiedenen sozialen Schichten. Dadurch gelingt es der Autorin in die Zeit passende, angesagte gesellschaftspolitische Themen einzubinden. Sie betrachtet auch die Kehrseite von Rebeccas Entschluss, ihre Familie zu verlassen, denn sie ist an gering bezahlte Arbeiten gebunden, weil sie sich ohne Papiere nicht traut, eine Ausbildung zu absolvieren oder eine weiterführende Schule zu besuchen. Die gewählte Freiheit darin, ihre Zukunft selbst zu gestalten, wird dadurch eingeschränkt.

Der Roman ist nicht nur mit dem Fokus auf Rebecca/Rosi geschrieben, sondern wechselt auch immer wieder hin zu Rebeccas jüngerer Schwester Miriam und ihrer Mutter Hilde. Auf diese Weise wird deutlich, dass die Verschwundene sehr vermisst wird. Außerdem wird die Position der Eltern untermauert und dem Lesenden dadurch ein früher durchaus übliches Zeitbild beschrieben. Die Darstellung des Umfelds war realistisch und nachvollziehbar.

Christiane Wünsche greift in ihrem Roman „Schwestern in einem anderen Leben“ das Schicksal einer verschwundenen Person auf, die lebenslang unter anderem Namen lebt. Basierend auf wahren Ereignissen unter Einbindung zeitgeschichtlichen Geschehens beschreibt die Autorin einfühlsam, wie sich Unauffindbare und Vermissende in einer solchen Lage fühlen. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung für das Buch.

Samstag, 9. März 2024

Rezension: Hallo, du Schöne von Ann Napolitano


Hallo, du Schöne
Autorin: Ann Napolitano
Übersetzer: Werner Löcher-Lawrence
Hardcover: 520 Seiten
Erschienen am 26. Februar 2024
Verlag: DuMont Buchverlag
Link zur Buchseite des Verlags

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William Waters ist ein Einzelkind, seit seine drei Jahre alte Schwester kurz nach seiner Geburt überraschend verstorben ist. Seine Eltern haben diesen Schicksalsschlag nie ganz überwunden und ihm wenig Liebe zukommen lassen. Seine Tage verbringt William mit Basketball spielen und ist schließlich so gut, dass er ein Stipendium für die Northwester University in Chicago erhält und sein bisheriges Leben hinter sich lässt. Dort lernt er Julia Padavano kennen, die mit ihren Eltern und ihren drei Schwestern in der Nähe des College wohnt. Als die beiden ein Paar werden, wird William in der Familie herzlich aufgenommen. Ihr Leben scheint vorgezeichnet: Eine gemeinsame Wohnung, Hochzeit, Kinder und Karriere. Doch dann kommt es zu unerwarteten Ereignissen, welche alle Charaktere aus der Spur werfen. Wie werden sie unter den veränderten Bedingungen ihre Zukunft gestalten?

Das Buch beginnt im Jahr 1987 mit dem Kennenlernen von William und Julia. Ich erhielt einen kurzem Abriss über Williams Kindheit und bevor ich mich versah waren die beiden ein Paar. Nach dem ersten Kapitel aus Williams Perspektive wechselt diese zu Julia und es ging in ebenso hohem Tempo weiter: Die beiden verloben sich und beschließen, zu heiraten. Die dritte im Bunde, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird, ist Julias Schwester Sylvie. Sie arbeitet seit ihrem dreizehnten Lebensjahr in einer Bibliothek, da ihr das Geld fürs College fehlt. Wärhend sie darauf wartet, dass ihr die große Liebe begegnet, lässt sie sich von diversen Jungen zwischen den Bücherregalen küssen.

Nach dem zügigen Einstieg spielt ein großer Teil der Geschichte in den Jahren 1982 bis 1984. Hier tauchte ich tiefer in das Leben der vier Schwestern und William ein. Auch wenn das Buch aus drei Perspektiven erzählt wird erfuhr ich ebenfalls so manches über die Zwillingsschwestern Cecelia und Emelina sowie ihrer Eltern Rose und Charlie. Die Charaktere wurden mir schnell sympathisch und die ersten schicksalhaften Entwicklungen ließen mich hoffen und bangen. Es kommt zu Brüchen, die mich hoffen ließen, dass sie wieder gekittet werden können. Doch manche Entscheidungen scheinen unwiderruflich.

Beim Lesen dieses Familienromans erlebte ich die ganze Bandbreite an Emotionen. Es geht um Liebe und Zusammenhalt, aber auch Eifersucht und Enttäuschung. Ann Napolitano behandelt die Themen gefühlvoll und mit großer Sensibilität. Ich lernte die Charaktere immer besser kennen, die einfach nicht aus ihrer Haut können. Ihre Entscheidungen, so folgenreich sie auch sein mögen und so unverständlich andere sie auch finden, wurden mir begreiflich gemacht. Zum Ende hin wird es noch einmal hochemotional und ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Auch wenn ich mit den Figuren noch mehr Zeit hätte verbringen können, ist die Länge des Romans genau richtig und dieser rundum gelungen. Für mich ein echtes Herzensbuch, das ich absolut weiterempfehlen kann!

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